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Heilkunst

„Medizin ist die Kunst, mittels Urteilskraft individuelle Entscheidungen zu treffen.“1

Der Mediziner, Theologe und Professor an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde der Medizinischen Universität Wien DDr. Johannes Huber empfahl allen Ärzten, sich der „Kunst“ der ärztlichen Tätigkeit bewusst zu sein:2

„Jede Medizin ist eine Kunst, das sollte man als Arzt, als Ärztin berücksichtigen und implementieren.“
 

Was ist „Kunst“ in der Medizin?

Der Berliner Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Rainer Appell beantwortete diese Frage mit einem Zitat des französischen Schriftstellers Gustave Flaubert:3

     Medizin ist eine Kunst, die sich auf eine Wissenschaft gründet.

Die beiden Wiener Internisten Michael Frass, Leiter der Spezialambulanz „Homöopathie bei malignen Erkrankungen“ im Allgemeinen Krankenhaus Wien und der Homöopathie- und Philosophieexperte Professor Gerhard Resch bestätigen den Zusammenhang von Kunst und Wissenschaft:

„Medizin ist eine Kombination aus Kunst und Wissenschaft.“4
„In der Medizin müssen Kunst und Wissenschaft Hand in Hand arbeiten“.5

Medizin ist mehr als Wissenschaft.

Medizin ist weder Wissenschaft noch Kunst alleine, sondern die vernünftige Kombination von beiden. Denn medizinisches Lehrbuchwissen bezieht sich auf „Allgemeines“. Das Medizinstudium lehrt eine „Wissenschaft des Allgemeinen“ an Beispiel, die häufig zu beobachten sind. Studien werden an vielen Teilnehmern durchgeführt, wobei die Patienten als anonyme und homogene Masse angenommen werden, um statistisch signifikante Ergebnisse zu erhalten. Klinische Studien basieren auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Studien liefern allgemeine Aussagen über Arzneiwirkungen.
 

Einzelfall

Für den Einzelfall enthalten Studien keine Information, ob ein Medikament nutzen oder schaden wird. Weil Patienten unterschiedlich reagieren. Viele Medikamente wirken gut. Aber es gibt auch Kranke, bei denen bestimmte Arzneimittel schwach oder gar nicht wirken. Manche Patienten reagieren mit Nebenwirkungen.

Das Ansprechen auf Medikamente lässt sich nicht vorhersagen. Zudem gibt es für jede Krankheit nicht nur ein Mittel, sondern verschiedene Behandlungen und Kombinationen von Therapien. Es ist daher nicht einfach, die optimale Behandlung für jeden Kranken zu finden. Leitlinien oder Computerprogramme sind Orientierungshilfen. Der Therapieerfolg hängt aber von der Reaktion des Patienten ab. Und der klinischen Erfahrung, Beobachtungsgabe sowie dem Einfühlungsvermögen des Behandlers, im Einzelfall die richtige Arznei zu verordnen, zu beurteilen, wann ein Therapiewechsel erforderlich ist und die Dauer der Behandlung zu bestimmen.

Die komplexen Beziehungen zwischen dem Kranken mit individueller Krankheit, Befindlichkeit und persönlichen Wünschen und dem Behandler mit individuellem Fachwissen, klinischer Erfahrung und empathischen Fähigkeiten erfordern, dass Medizin als „Heilkunst“ ausgeübt wird.
 

Ganzheitsmedizin

Ganzheitliche Therapieformen sind noch aufwendiger.

Während die Schulmedizin danach strebt, die Symptome und Befunde der Patienten dem „Allgemeinen“, also dem medizinischen Schulwissen unterzuordnen, das zu Diagnose und Therapie führt, orientiert sich die  Ganzheitsmedizin am „Speziellen“ als dem Besonderen und Individuellen jedes Kranken.

Die konventionelle Medizin betrachtet Krankheiten, Symptome und Befunde, während die Ganzheitsmedizin den kranken Menschen mit seinen Beschwerden, körperlichen und psychischen Besonderheiten berücksichtigt. Dabei werden persönliche und subjektive Details erfasst. Diese Beobachtungen müssen in eine rationale Ordnung gebracht werden, um einen konkreten Therapievorschlag zu erarbeiten. Das „fordert den Arzt als ganzen Menschen und die Verfeinerung der Wahrnehmung auf allen Ebenen“, wie Rainer Appell schrieb und dafür Johann Wolfgang von Goethe zitierte:6

„Die Medizin beschäftigt den ganzen Menschen, weil sie sich mit dem ganzen Menschen beschäftigt.“
 

Ganzheit

Medizinische Ganzheit ergibt sich aus dem Organismus.

Alle Symptome des Menschen stammen aus einem komplexen Regelsystem, dessen körperliche und psychische Prozesse das Gleichgewicht zwischen Gesundheit und Krankheit regeln. Krankheitsursachen und gesundheitsfördernde Maßnahmen betreffen immer das gesamte Regelsystem. Deshalb ist es klug, die vielen Symptome des Menschen als Einheit in gegenseitiger Abhängigkeit zu sehen. Die Gesamtheit der Symptome repräsentiert den mit den Sinnen wahrnehmbaren Zustand des ganzen Organismus.
 

Realitätserkenntnis

Die Behandlung des ganzen Menschen erfordert Realitätserkenntnis.

Dieser Fachbereich der Philosophie beschäftigt sich mit Wahrnehmung, Wahrheit und Wirklichkeit. Es reicht nicht, dass der Arzt am Patienten das sehen will, was er möchte und erwartet, um eine Diagnose stellen zu können. Der Behandler muss sich ganz zurücknehmen und dem Kranken öffnen, um aufmerksam und unvoreingenommen wahrzunehmen, was in jedem Einzelfall zu beobachten, zu erfragen und zu erfühlen ist.

Das nimmt den ganzen Verstand des Arztes in Anspruch.7 Der Arzt richtet sich mit allen Sinnen und seinem Fachwissen auf den einzelnen Kranken und sein individuelles Kranksein aus. Kein Krankheitsfall gleicht einem anderen. Speziell in der Homöopathie sind komplexe Beobachtungs-, Ordnungs- und Denkleistungen erforderlich, um in der wahrgenommenen Vielfalt der Symptome den Gesamtzustand als „Muster“ zu erkennen, das einen rationalen Therapievorschlag ermöglicht.

Die ganzheitliche Erfassung des Kranken und in die Zukunft gerichtete therapeutische und prognostische Erwägung von Maßnahmen, die unter Berücksichtigung der körperlichen und psychischen Verfassung des Patienten einen begründeten Behandlungserfolg erwarten lassen, stellen ein hohes Maß an Heilkunst dar.

Diese Kunst umfasst folgende Bereiche:

Anamnese
Konstitution
Intuition
Urteilskraft
Evidenzbasierte Medizin
 

Anamnese

Die Anamnese ist das Gespräch, bei dem möglichst viele für die Therapie wichtige Informationen durch den Behandler abgefragt werden. Der Kranke kann frei sprechen (Spontananamnese) und auf Fragen antworten (Lenkbericht). Es können auch Person befragt werden, die den Patienten gut kennen (Fremdanamnese). Das Ziel ist die Erfassung der gesamten „Krankengeschichte“, um den aktuellen Krankheitszustand zu dokumentieren sowie die Entwicklung und Ursachen der Krankheit zu ergründen.

Professor Gerhard Resch schrieb über die „Kunst der Anamnese“:5  

Das Wort „Anamnese“ leitet sich vom altgriechischen anámnēsis ab. Der Begriff bedeutete „Rückerinnerung“ im Rahmen religiöser Riten, als Erinnerung an die ursprüngliche religiös-menschliche Einheit. Der englische Begriff für Krankengeschichte lautet history und weist ebenfalls auf die Vergangenheit hin, um die Entwicklung und Ursachen des Krankheitsprozesses zu verstehen.
 

Subjektives und objektives Bemühen

Eine gute Anamnese erfordert das Bemühen von Patient und Behandler. Der Patient steht als berichtendes Subjekt im Mittelpunkt. Der Arzt tritt hörend, beobachtend und fragend an ihn heran und ist um Objektivität bemüht:5

„Deshalb wird das Bemühen des Patienten als subjektives und dasjenige des Arztes als objektives bezeichnet.“

Voraussetzungen einer vollständigen Anamnese:

  1. Gemeinsame Arbeit von Patient und Behandler
  2. Zeitaufwand
  3. Bereitschaft des Patienten zur Mitteilung seines Wissens, seiner Empfindungen, Beschwerden und Erfahrungen
  4. Zurückhaltung des Behandlers, um den Patienten nicht zu beeinflussen.

Der Behandler soll den Kranken frei sprechen lassen und nur dann vorsichtig eingreifen, wenn der Patient seine Hilfe zur Überwindung sprachlicher Schwierigkeiten benötigt. Der Patient soll ermuntert werden, alles zu sagen, was er weiß, spürt und empfindet.

Die Anamnese soll eine maximale „Ausbreitung“ des Patienten und maximale Aufnahme dieser Informationen durch den Arzt ermöglichen. Dazu ist äußerste Zurücknahme des Arztes erforderlich, vergleichbar mit fernöstlichem „Leermachen“, um objektive Erkenntnis über den Kranken zu gewinnen. In menschlichen Beziehungen kann sich eine Seite nur ausweiten, wenn sich die andere Seite zurücknimmt.

Dennoch bleiben die Aussagen der Patienten häufig unvollständig. Dann ist besonderes Fingerspitzengefühl erforderlich, um vorsichtig nachzufragen ohne bestimmte Antworten zu erzwingen.
 

Subjektives

Die subjektiven Ergebnisse der Anamnese drücken die unverwechselbare Individualität des Menschen aus. Aufgrund des qualitativen Charakters und können sie nicht naturwissenschaftlich festgestellt werden. Mathematisch-wissenschaftliche Exaktheit und quantitatives Messen haben im qualitativen Bereich nur geringe Bedeutung:5

„Es herrschen die Gesetzmäßigkeiten der Qualitätslehre, die auf Wertung von Ähnlichkeiten beruht.“
 

Qualitäten

Qualität ist unteilbar.

Das gilt auch für den qualitativen Gesundheitszustand des Kranken. Die Beurteilung der Einzelbefunde muss im Hinblick auf die Ganzheit des Menschen erfolgen. Deshalb ist in der Homöopathie die „Gesamtheit der Symptome“ besonders wichtig.

Qualitäten sind nicht messbar, aber beschreibbar und vergleichbar.

Beschreiben und Vergleichen sind künstlerische Fähigkeiten. Qualitäten sind für den künstlerischen Verstand zugänglich. Es gelten „Kunstregeln“, um Qualitatives zu beurteilen.

In der Homöopathie sind zwei Kunstregeln wichtig:5

  1. Regel von der Totalität der Zeichen
  2. Regel von den eigenartigen Symptomen

In der Homöopathie wird die „Totalität“ d.h. die Gesamtheit aller Symptome und Zeichen in der Anamnese festgestellt. Mit „Zeichen“ sind objektivierbare Symptome und qualitative Beobachtungen gemeint, die zur Beschreibung des individuellen Zustandes beitragen. „Eigenartig“ oder „charakteristisch“ werden Symptome benannt, die aufgrund ihrer „Eigenart“ für den individuellen Patienten typisch sind. Diese Symptome zeigen das spezifische Reaktionsmuster des Organismus. Sie sind in der Homöopathie besonders wertvoll, weil es damit möglich wird, Arzneimittel zu verordnen, die zum Zustand des Patienten passen.
 

Hierarchisches Ordnen

Eine gute Anamnese zeigt viele Symptome auf.

Mit der „Kunstregel“ der eigenartigen Symptome werden Symptome herausgefiltert, die für den Kranken besonders charakteristisch sind. Darüber hinaus müssen die vielen Symptome „gewichtet“ werden. Das ist ein qualitatives Abwägen, welche weiteren Symptome für die homöopathische Arzneiwahl wichtig sind:5

„Die hierarchische Differenziertheit der Teile des Körpers erzwingt eine hierarchische Differenzierung der Symptome, denn es können ja nicht alle gleiche Bedeutung haben, weder für den Patienten noch für die Erkenntnis dessen, was an ihm gesund und was krank ist. Das steht nicht im Widerspruch dazu, den Menschen als Ganzes in der Anamnese zu sehen, denn Hierarchie ist nur sinnvoll im Hinblick auf das Ganze. Vielmehr zwingt es uns, anzuerkennen, dass wir einerseits die möglichste Vollkommenheit an Erkenntnis des gesunden bzw. kranken Zustandes des Patienten gewinnen müssen, und andererseits, dass die Symptome unterschiedliche Bedeutung haben, einerseits für den Patienten und andererseits für die Diagnose und Prognose des Arztes als Wissenschaftler und Heilkünstler.“
 

Reaktionsweise des Organismus

Die Anamnese und qualitative Bewertung der Symptome bringen „die Konturen, die Strukturen und die Fülle des individuellen Falles zur Kenntnis.“5

Die Bedeutung der für den Patienten besonders charakteristischen Symptome ist darin begründet, dass Krankheit den ganzen Menschen betrifft. Krankheit ist ein Prozess, auf den der gesamte Organismus mit einer qualitativen Zustandsveränderung reagieren kann.

Die individuelle Reaktionsweise des Organismus ist der Schlüssel zum Verständnis der Homöopathie:

  • Krankheiten haben aus ganzheitlicher Sicht nicht nur mit objektiven Ursachen wie Entzündung, Infektion, Allergen oder Stress zu tun, sondern zeigen immer auch ein individuelles Reaktionsmuster, wie der Organismus in der Krankheit reagiert.
  • Dieses Reaktionsmuster ist die Grundlage, um homöopathische Arzneimittel zu verordnen, die zum kranken Menschen passen.
     

Patient im Mittelpunkt

Professor Resch wies auf die Wichtigkeit des Anamnesegespräches hin:5 

„Früher wurde die vom Arzt durchzuführende Untersuchung eher als eine Ergänzung zur Anamnese gesehen. In neuerer Zeit sind die Untersuchungen des Arztes am Patienten immer mehr zum Primären und die subjektiven Beiträge des Patienten immer mehr zu einer Ergänzung der Anamnese geworden.“

Die Homöopathie nimmt den ganzen Menschen wahr. Die Untersuchung und objektive Befunde liefern wichtige Ergänzungen, die klinische und rechtliche relevant sind. Die Untersuchung erbringt meistens „allgemeine“ Erkenntnisse, die auf viele Patienten zutreffen. Damit ist keine individuelle Behandlung im tiefen Sinn des Wortes möglich. Um Ganzheitsmedizin zu betreiben, muss das „Spezielle“ des Patienten erfasst werden.
 

Konstitution

Konstitution ist eine „angeborene und durch die Umwelt geprägte, wandelbare und therapeutisch beeinflussbare Reaktionsweise“.8

Nur ein Teil der Menschen wird von bestimmten Krankheiten befallen und andere Menschen nicht. Manche Menschentypen sind anfälliger für spezielle Gesundheitsstörungen als andere. Krankheitsverläufe zeigen unterschiedliche Reaktionsmuster:8

„Es ist für den Verlauf des Lebens und die Anfälligkeit des Menschen nicht gleichgültig, ob er rot und warm, feucht und kräftig, blass und kalt, trocken und schwach ist (Gegensatzpaare). Ebenso wird das Verhalten der Person von seiner angeborenen geistig-seelischen und körperlichen Verfassung geleitet. Es verhält sich ein froher, heiterer, lustiger und geselliger Mensch grundsätzlich anders, als ein stiller, ernster, trauriger und verschlossener.“

Diese qualitativen Muster sind mit klinischer Erfahrung und künstlerischem Feingefühl erkennbar. Auch undefinierbare und schwer beschreibbare Symptome können Teil eines Reaktionsmusters sein.9 Manche Patienten zeigen ähnliche Beschwerden und Schmerzmuster, unabhängig davon, woran sie gerade erkrankt sind. Häufig vorkommende Muster können „Konstitutionstypen“ zugeordnet werden.

Die konstitutionellen Merkmale ergänzen das Gesamtbild des Patienten. Neben den eigenartigen Symptomen und der Gesamtheit der Symptome kann auch der Konstitutionstyp für die Auffindung eines passenden Arzneimittels wichtig sein.
 

Kunst

Der Villacher Allgemeinarzt und Komplementärmediziner Sieghard Wilhelmer wies darauf hin, dass konstitutionelle Besonderheiten von Patienten – deren „So-Sein“ – auch in der Kunst zu beobachtet sind.9 Schriftbild, Lieblingsfarben und Malerei können „Muster“ zeigen, die konstitutionelle Hinweise geben.

Wilhelmer hat das für Kinderzeichnungen beschrieben. In Themen und Stil wird Individuelles ausgedrückt, das feinfühlige Behandler wahrnehmen. Die Erfassung dieser „nonverbalen“ Muster erfolgt meist intuitiv. Vor dem Hintergrund des Wissens über Konstitution können auch diese Beobachtungen helfen, das „Spezielle“ eines Patienten herauszufinden.
 

Intuition

Intuition ist ein „Ahnungsvermögen“, womit wir Gesamteindrücke, größere Zusammenhänge, Entsprechungen und tiefe Hintergründe erfassen können.10

Der Schweizer Chefarzt, Professor und Schriftsteller Frank Nager hat die Grundlagen der Intuition in der Medizin zusammengefasst:11 Bereits Blaise Pascal hat Intuition als Herzensangelegenheit, Logik des Herzens und „Herzensscharfsinn“ erklärt. Johann Wolfgang von Goethe sprach von „Ahnung“ und „Anschauung“ und warnte mit drastischen Worten vor einseitiger Verstandesgelehrsamkeit:11

„Wem sein Herz nicht sagt, was er sich und andern schuldig ist, der wird es wohl schwerlich aus Büchern erfahren, die eigentlich nur geschickt sind, unsern Irrtümern Namen zu geben.“

Auch der Schweizer Arztphilosoph Carl Gustav Jung bezeichnete die Intuition als „Ahnungsvermögen“ und kritisierte die „moderne Hirnseitigkeit“:11

„Selbst jemand, der über einen hoch entwickelten Intellekt verfügt, kann sehr in die Irre gehen, weil er nicht gelernt hat, seine Intuition oder sein Gefühl einzusetzen, die sich sogar auf einer bedauerlich tiefen Entwicklungsstufe befinden können.“

C.G. Jung unterschied vier psychologische Grundfunktionen:

  1. Denken
  2. Fühlen
  3. Empfinden
  4. Intuition

In Wissenschaft und Medizin sowie im täglichen und sozialen Leben ist es wichtig, diese vier Funktionen in guter Balance zu verwenden. Rationales Denken, empathisches Fühlen und Mitfühlen, Empfinden mit den Sinnesorganen und Intuition als „irrationale Wahrnehmungsfunktion“ (C.G. Jung) stehen jedem Menschen zur Verfügung. Intuition darf aber nicht mit Spekulation und Phantasterei verwechselt werden.

In der Medizin ermöglicht Intuition viele Leistungen:11

  • Entdeckungen genialer Forscher
  • richtige ärztliche Entscheidungen trotz ungenügender Information
  • klinischer Blick
  • empathische Einfühlung in die Individualität und Befindlichkeit des Kranken

Intuition ist in der Schulmedizin und Komplementärmedizin eine Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln. Ganzheitsmedizin wird dann erreicht, wenn die Medizin den körperlichen, seelischen, sozialen und geistig-transzendentalen Dimensionen des Menschen gerecht wird:11

„Ganzheitlich verwirklicht ist die Medizin ein einzigartiger Beruf, ein wundersam reiches Gemisch von Wissenschaft, Handwerk, Geschäft, Liebestätigkeit und Kunst.“
 

Urteilskraft

Kunst in der Medizin ist Können, das durch Urteilskraft eingesetzt wird.

Wissen und wissenschaftliche Begründungen sind in der Medizin etwas anderes als in der Naturwissenschaft:12

„Das Wissen, das für die Heilkunst erforderlich ist, ist ein Wissen eigener Art, das sich vom naturwissenschaftlichen Wissen grundlegend unterscheidet. Der wissenschaftliche Charakter der Medizin als praktische Wissenschaft kann deshalb auch nicht von den Naturwissenschaften hergeleitet oder abgeleitet werden, sondern entspricht einer eigenen Rationalitätsform, die als solche erkannt und ernst genommen werden muss, damit die Medizin in ihrer Selbstwahrnehmung und der Einschätzung ihres wissenschaftlichen Status nicht in die Schieflage gerät und keine Geltungsansprüche erhebt, die wissenschaftstheoretisch nicht einlösbar sind.“

Medizinische Entscheidungen sind begründet. In den Naturwissenschaften sind für Begründungen allgemein geltende Aussagen erforderlich, die „überindividuelle“, d.h. über einzelne Menschen hinausgehende Gültigkeit haben. In der Medizin kommt es jedoch auf die individuelle Gültigkeit an:12

„Die Begründung, um die es in der Medizin geht, ist die Begründung einer stets individuellen Handlung.“
 

Medizinisches Handeln

Handeln erfolgt in der Medizin immer individuell. Die individuelle Ausübung der Medizin liegt aber nicht außerhalb der Wissenschaft, „sondern mitten innerhalb der Wissenschaft“:12

     „Die Urteilskraft ist dabei in der Medizin sogar das wissenschaftliche Vermögen schlechthin.“

Ohne geübte Urteilskraft, welche die Brücke vom Wissen zur Handlung darstellt, bringt das gesamte Wissen der Medizin wenig Nutzen. Erfolgreiches Handeln ist ohne medizinische Urteilskraft nicht möglich. Urteilskraft kann nicht erlernt, sondern muss durch jahrelange Erfahrungen an Beispielen geschult werden.

Die Urteilskraft ist subjektiv. Es braucht Einfühlungsvermögen und Begabung, um die „Befindlichkeiten“ von Patienten zu beurteilen. Welche Auswirkungen eine Therapie haben wird. Unter welchen Umständen man die Behandlung fortsetzen, optimieren oder beenden soll. Dabei sind ständig Urteile zu fällen, die zu Entscheidungen führen.

Das ist medizinische Kunst:12

„Auf diese Weise konstituiert sich die Medizin als Kunst, denn in ihr entscheidet, neben allem unverzichtbaren Wissen, ein höchst individuelles Können in seinen zahllosen Facetten mit über die künftigen Ereignisse der therapeutischen Bemühungen um Heilung oder Linderung der Beschwerden des Patienten.“
 

Evidenzbasierte Medizin

Evidenzbasierte Medizin ist nicht exakt, sondern ärztliche Kunst.

Die evidenzbasierte Medizin (EBM) ist der ärztliche Versuch, eine optimale Therapie für einzelne Patienten auf Grundlage von Studien oder anderen Daten zu finden. Durch Abwägen aller Argumente wird ein Urteil getroffen, das eine Therapieentscheidung ermöglicht.

EBM liefert keine naturwissenschaftlichen „Beweise“, sondern Abschätzungen aufgrund von Wahrscheinlichkeiten. Die EBM ist keine exakte Medizin, sondern ärztliche Kunst, die von der klinischen Erfahrung abhängt:13

„Univ. Prof. Michael Hiesmayr, Intensivmediziner und Referent bei den Linzer EBM-Kursen, legt besonderen Wert darauf, dass es die Kunst des Arztes ist und bleibt, wie er diese Kenntnis der verfügbaren Evidenz und seine Erfahrung bei einem bestimmten Patienten mit seinen individuellen Problemen und Umständen (Alter, Präferenzen, Begleitkrankheiten ...) zum besten Ergebnis für den Patienten führt.“
 

FAZIT

Medizin ist Wissenschaft und Kunst.

  1. Anamnese und Bewertung von Symptomen sind medizinische Kunst.
  2. Zuordnung individueller Reaktionsmuster zu Konstitutionstypen erfordert ganzheitliche Beobachtung.
  3. Intuition ermöglicht richtige medizinische Entscheidungen auch bei ungenügender Information.
  4. Medizinische Begründungen legitimieren individuelle Handlungen.
  5. Medizinische Handlungen sind individuell und wissenschaftlich.
  6. Urteilskraft ist eine wissenschaftliche Fähigkeit.
  7. Evidenzbasierte Medizin ist ärztliche Kunst.
     

Literatur

  1. Gebhardt 2015
  2. Huber 2015
  3. Appell 1997
  4. Frass 2015
  5. Resch, Gutmann 1987
  6. Goethe 1812
  7. Resch 2011
  8. Dorcsi 1986
  9. Wilhelmer 1997
  10. Würger 2011
  11. Nager 2007
  12. Würger 2013
  13. Alkin 2005
     

PDF

PDF mit Literaturangaben

 

 

Startversion: 9.8.2017
Autor: Friedrich Dellmour